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M. Feldenkrais "Über meine Methode"

Ich möchte hier einen Text von Feldenkrais von 1964 veröffentlichen, in dem er seine Arbeit beschreibt, zu einer Zeit, als die Neurobiologie noch weit entfernt war, zu wissen, was er bereits praktisch erfolgreich umsetzte!

In den nächsten Folgen werde ich mich vermehrt mit den alten Quellen und der neuen Wissenschaft vom Lernen aueinandersetzen.

Viel Freude beim Lesen!

 

Der Mensch ist, was seine Körperstruktur anbelangt, ein Tier. Aber er ist das am höchsten entwickelte Tier und durch die Art und Weise, wie sein Nervensystem funktioniert, ein menschliches Wesen. Die Hand eines Menschen unterscheidet sich nur wenig von der eines Affen - etwa in der Haltung und Bewegung des Daumens - aber das Nervensystem des Menschen erlaubt es ihm, Muskeln und Knochen so zu benutzen, wie es ein Anthropoide (Menschenaffe) nicht kann. Er kann nämlich feine, gezielte, speziell menschliche Bewegungen ausführen, wie z.B. schreiben, ein Musikinstrument spielen, Banknoten zählen, eine Uhr reparieren oder ein Mikroskop einstellen.

Es gibt zwei verschiedene Arten, eine Hand zu benutzen und diese werden auch durch zwei verschiedene Vorgänge erlernt. Gewöhnliche Handbewegungen erfolgen spontan und werden bei jedem normalen Tier beim Heranwachsen verfeinert, gleichgültig ob Affe oder Mensch. Die feinem, dem Menschen eigenen, gezielt ausgeführten Bewegungsarten müssen jedem menschlichen Wesen jedoch auf bestimmte Art und Weise und zu einer bestimmten Zeit vermittelt werden.

Diese besondere Art zu lernen (vielleicht die wichtigste Eigenschaft des menschlichen Nervensystems) zeigt sich nicht nur bei der Hand des Menschen, sondern betrifft alle Funktionen. Die aufrechte Haltung, sein Gang, seine Sprache – all dies ist erlernt und bedurfte einiger Jahre Lehrzeit und danach vieler Jahre bis zur Perfektion.

 

Die Fähigkeit, Laute zu äußern (was auch Tiere tun) wird mit dem Heranwachsen besser, sowohl beim Menschen als auch bei den Säugetieren, aber jemand, der außerhalb der menschlichen Gesellschaft heranwächst, wird vermutlich niemals das gleiche können wie ein durchschnittlich entwickelter Mensch. Der Instinkt des Tieres ist phylogenetisches Lernen bzw. das Lernen seiner Spezies; das Lernen des Menschen ist ontogenetisch, d.h. durch persönliche Erfahrungen bestimmt. Kurzum, Lernen bedeutet für das menschliche Nervensystem, was Instinkt für das Tier bedeutet.

Hunde lernen z.B. alle “Hundesprachen“. Ein chinesischer Hund kann sowohl mit einem amerikanischen als auch mit einem persischen Hund kommunizieren. Aber das Nervensystem des Menschen, das durch persönliche, individuelle Erfahrung auf eine Sprache programmiert, (sozusagen in Form einer elektrischen Leitung) auf eine Sprache ausgerichtet wurde, kann nur eine Sprache sprechen. Die restlichen 2000 oder mehr Sprachen bleiben für ihn immer fremd, es sei denn der einzelne bemüht sich darum sie zu lernen.

Der Instinkt hat gewisse Schattenseiten, wie auch menschliches Lernen. Der Instinkt ist nutzlos in plötzlich veränderten oder völlig neuartigen Situationen. Der Wert des Lernens besteht inder Wahl und der Qualität dessen, was gelernt wird. Das Nervensystem des Menschen jedoch, in das die Verhaltensmuster während des Lernprozesses sozusagen eingraviert werden und die nicht vererbt sind (wie z.B. die Instinkte), hat einen großen Vorteil: Umlernen oder Umerziehung ist relativ einfach.

 

Am besten gibt Bewegung Aufschluss über die Aktivität des menschlichen Nervensystems. Zittern, Lähmungen, Ataxien, Sprachbehinderung und mangelhafte Muskelkontrolle weisen in allgemeinen auf Verletzung oder Funktionsstörung des Hirnstamms oder anderer Teile des Nervensystems hin. Bewegung oder fehlende Bewegung zeigt den Zustand des Nervensystems an, seine ererbte Ausstattung und das Ausmaß seiner Entwicklung. Eine Bewegung findet dann statt, wenn das Nervensystem Impulse aussendet, die die entsprechenden Muskeln im richtigen Bewegungsmuster und in der richtigen zeitlichen Reihenfolge kontrahieren. Kurz nach der Geburt verfügen wir nur über wenige willentliche Bewegungen außer dem Schreien und der Kontraktion der Beugemuskeln in einem undifferenzierten Kraftaufwand. Später lernen wir durch Erfahrung zu rollen, zu krabbeln, aufrecht zu sitzen, zu laufen, zu sprechen, zu rennen, zu springen, Balance zu halten, uns zu drehen oder was auch immer als Erwachsene wir zustande bringen.

 

Unser Bewußtsein paßt sich langsam seiner Umgebung an. Über Haut und Mund kommt es zu den ersten Kontakten mit der Außenwelt. Später lernen wir, unsere Körperteile unabhängig voneinander zu benutzen und sie mit Hilfe der Augen zu regulieren. Die größte Schwierigkeit dabei ist, die Bewegungen zu differenzieren. So wird der vierte Finger z.B. ungeschickt bleiben, wenn wir nicht lernen, ein Musikinstrument zu spielen oder besondere Anstrengungen unternehmen, ihn bewußt zu trainieren. Im allgemeinen gelingt es uns aber, die Alles-oder-Nichts-Reaktion einer primitiven Muskelkontraktion zu einer mehr oder weniger vollkommenen willentlichen Bewegungsfolge zu entwickeln. Gewöhnlich erreichen wir dies während der Zeit unseres Lernens auf natürliche Weise, d.h. ohne uns des dazu notwendigen Prozesses oder des Ausmaßes oder Grades an Vollkommenheit bewußt zu sein. Die meisten von uns gelangen zu einer unbekümmerten Mittelmäßigkeit, gerade genug, um uns zu einem(r) von vielen zu machen.

 

Meine Methode, eine bessere Reife unseres Nervensystems herbeizuführen, bedient sich der reversiblen Beziehung unseres Muskel- und Nervensystems. Beide sind in Wechselwirkung zur Schwerkraft entstanden, die sowohl für die Entwicklung und Lehrzeit jedes Individuums als auch für die Evolution der Spezies maßgebend ist.

 

Die außerordentliche Entwicklung der Frontallappen des menschlichen Gehirns bedeutet, daß deren Funktionen eine evolutionäre Verbesserung darstellen und dem Überleben des Geeignetsten dienen. Diese Entwicklung des menschlichen Gehirns kommt durch sein Wachstum nach der Geburt zur Entfaltung und wird daher durch persönliche, individuelle Erfahrung gerichtet und geformt. Als Resultat hat der Mensch beides: die Befähigung - über die kein anderes Tier verfügt - ein komplettes Muster von erlernten Reaktionen aufzubauen und die ganz besondere Verwundbarkeit, sich zu irren. Da die Tiere ihre Reaktionen auf die meisten Stimuli in ihr Nervensystem in Form von Aktionsmustern des Instinkts eingepflanzt haben, irren sie sich weniger häufig. Und was noch irritierender ist, wir haben nur eine geringe Chance zu erkennen, an welcher Stelle wir uns geirrt haben. Da wir gleichzeitig lernen und urteilen, hängt unser Urteil von unseren Fortschritten ab und ist durch sie begrenzt. Um uns also weiterzuentwickeln, müssen wir offensichtlich unsere Urteilsfähigkeit verfeinern. Jedoch ist die Beurteilung das Resultat eines bereits beendeten Lernprozesses.

 

Um diesen Teufelskreis zu unterbrechen, müssen wir die grundlegende Eigenschaft des supralimbischen Teils unseres Gehirns benutzen, das in der Lage ist zu fühlen und zu abstrahieren und sogar in Worten ausdrücken kann, was in unserem Körper vorgeht. Indem alle Stimuli auf ein Minimum reduziert werden, reduzieren wir ebenfalls jegliche Veränderung in unserem Muskelsystem und unseren Sinnen auf ein Minimum. Dadurch erhöhen wir unsere Sensitivität auf ein Maximum und können differenzierte Details wahrnehmen, die unserer Aufmerksamkeit zuvor entgangen sind. Wir sind wie ein Farbenblinder, dem die Fähigkeit, zwischen Rot und Grün zu unterscheiden, wiedergegeben wurde. Wenn das Unterscheidungsvermögen besser geworden ist, können die Einzelheiten der Umgebung oder des Selbst besser wahrgenommen werden; wir werden uns darüber bewußt, was wir tun und nicht darüber, was wir sagen oder denken, daß wir tun.

 

 

Anfangs finden die Sitzungen im Liegen auf dem Rücken oder auf dem Bauch statt, um die Auflösung muskulärer Muster zu erleichtern. So wird der normalerweise vorhandene Druck auf die Fußsohlen und die daraus resultierende Konfiguration der Skelettgelenke aufgehoben. Das Nervensystem empfängt nicht die gewöhnlich infolge der Schwerkraft vorhandenen afferenten Stimuli, und die efferenten Impulse sind nicht mit dem gewohnheitsmäßig vorhandenen Muster verbunden. Nach der Sitzung wenn die gewohnten Stimuli wieder wahrgenommen werden, ist man überrascht, eine veränderte Reaktion vorzufinden.

 

Die Lektionen werden so behutsam und angenehm wie möglich durchgeführt, ohne Anstrengung und Schmerzen; das Hauptanliegen besteht nicht darin, bereits bekannte Dinge einzuüben, sondern unbekannte Reaktionen zu entdecken und dadurch eine bessere, angemesserene Handlungsweise zu erlernen.

 

Die Bewegungen sind leicht, so dass nach 15 oder 20 Wiederholungen die anfängliche Anstrengung auf nicht mehr als einen Gedanken reduziert wird. Dies bewirkt an der Person ein Maximum an Sensitivität und befähigt sie, geringfügige Veränderungen im efferenten Tonus und die veränderte Anordnung der verschiedenen Körperteile aufzuspüren. Am Ende der Sitzungen fühlt man, daß der Kopf ganz leicht mit dem Körper verbunden ist, daß die Füße nicht in den Boden stampfen und daß der Körper gleitet, wenn er sich bewegt. Der Kopf, der alle Teleceptoren trägt - Augen, Ohren, Nase und Mund - und der sich mit nahezu jeder Bewegung nach rechts oder links bewegt, sich allen Veränderungen im umgebenden Raum zuwendend, sollte sich mit einer solchen Geschmeidigkeit bewegen, mit der sich auch der perfekteste, von Menschen erfundene Mechanismus nicht vergleichen kann. Alle Teleceptoren, auch die Augen bewegen sich nach rechts oder links in Relation zum Kopf, und ihre Bewegung mit Richtung des Kopfes oder in die Gegenrichtung des Kopfes sollte leicht und mühelos sein.

 

Den Körper zu unterrichten, alle möglichen Formen und Anordnungen der Glieder perfekter zu gestalten, verändert nicht nur die Kraft und Flexibilität des Skeletts und der Muskeln, sondern verursacht eine tiefgehende Veränderung des Selbstbildes und der Qualität der Gerichtetheit des Selbst.

 

 

Die Feldenkrais-Methode umfaßt zwei Techniken: die Einzelstunde und die Gruppenmethode. Die Einzelstunde wird immer individuell gestaltet und auf die besonderen Bedürfnisse der einzelnen Person ausgerichtet. Ungefähr 30 verschiedene Stellungen des Körpers werden angewandt. Die Gruppenmethode wurde unter dem Aspekt entwickelt, die in der Einzelsitzung erzielte Wirkung einer möglichst großen Anzahl von Menschen zuteil werden zu lassen. Das Wort Unterricht, deutet an, daß die Veränderung des Selbstbildes vom Lernenden selbst hervorgerufen werden, indem er sich über sein verändertes Körperbild bewußt wird.

 

Da alle Funktionen als Äußerung des Nervensystems angesehen werden, kann die Feldenkrais-Methode in allen Bereichen Anwendung finden. Ich habe weltbekannte Musiker, Geiger, Pianisten, so z.B. den bekannten Dirigenten Igor Markevitch, unterrichtet, der sich meiner Methode beim internationalen Orchesterkurs in Salzburg bediente. Auch habe ich regelmäßig für Peter Brooke bei seinem internationalen Centre of Theatre Research in Paris gearbeitet wie auch in San Juan de la Baptista, wo er mit dem Teatro Campesino arbeitete und bei der Brooklyn Academy of Music. Die Fakultät für Schauspiel der Carnegie-Mellon University, die University of Pittsburgh, die New York University und viele andere haben meine Technik angewandt. Ebenfalls habe ich mit chronischen Schmerzpatienten und Behinderten gearbeitet.

 

Moshe Feldenkrais. From My Method. Tel Aviv: Alef Publishers 1964